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Schonungsloses Porträt einer Generation im Zwiespalt zwischen Exzess und Sinnsuche: „Rausch und Klarheit“ von Mia Gatow

Rausch und Klarheit – beides geht nicht zusammen. Alkohol und Klarheit kann es nicht geben. Wir leben in einer alkoholischen Gesellschaft, in der Nüchternheit ein Akt der Rebellion ist. Ja. Klarsein, Nüchternsein, Cleansein ist nicht nur gut für deine Gesundheit, für deine Beziehungen, deine Arbeit, es ist auch gut für die Gesellschaft und es ist ein Akt der Selbstermächtigung.

Ein Leben im Rausch – und danach

Mia Gatow erzählt in „Rausch und Klarheit“ nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern seziert mit sprachlicher Wucht die Ambivalenz, die viele von uns im Umgang mit Genussmitteln und Exzessen erleben. Von den glitzernden Nächten im Berliner Nachtleben bis hin zu den dunklen Morgen danach beschreibt Gatow das Auf und Ab einer Abhängigkeitsgeschichte, die zugleich intim und universell ist.

Die Autorin entführt die Leser:innen in die raue und oft romantisierte Welt von Partys, Drinks und zwischenmenschlichem Drama. Ihre schonungslose Ehrlichkeit über die Illusionen, die Alkohol uns vorgaukelt – Freiheit, Tiefe, Zugehörigkeit – macht das Buch zu mehr als nur einer Biografie. Es ist eine gesellschaftliche Analyse, die offenlegt, wie sehr Alkohol Teil unseres Alltags und unserer Identität geworden ist.

Besonders eindrucksvoll ist, wie Gatow den Übergang von Exzess zu Klarheit schildert. Sie nimmt uns mit auf ihre Reise zu den Anonymen Alkoholikern, erzählt von dem Kampf gegen alte Muster und dem Aufbau eines neuen Lebens ohne den vermeintlich „tröstenden“ Rausch. Dabei stellt sie eine radikale These auf: Nüchternheit ist ein Akt der Rebellion – gegen gesellschaftliche Erwartungen, gegen das eigene Ego, gegen die Suche nach kurzfristiger Befriedigung.

Zwischen Drama und Erkenntnis

Gatow beleuchtet, wie sich ihre eigene Familiengeschichte – eine „Dynastie der Trinkenden“ – in ihrem Leben widerspiegelt. Gleichzeitig bricht sie mit der Idee, dass Abhängigkeit immer einen Tiefpunkt braucht, um erkannt zu werden. Sie zeigt die Grauzonen, die zwischen sozial akzeptiertem Trinken und Sucht liegen, und gibt Leser:innen Denkanstöße, die weit über den Umgang mit Alkohol hinausgehen.

Ihr Blick ist nicht verurteilend, sondern empathisch. Sie zeigt, dass es nicht um Perfektion oder Abstinenz geht, sondern um Authentizität und Ehrlichkeit gegenüber sich selbst. Es ist genau diese Perspektive, die „Rausch und Klarheit“ so wertvoll macht – nicht nur für Menschen, die selbst mit Abhängigkeiten kämpfen, sondern auch für jene, die das Thema besser verstehen möchten.

Leseprobe Rausch und Klarheit

FAQs: Was du über „Rausch und Klarheit“ wissen musst

Für wen ist das Buch geeignet? „Rausch und Klarheit“ richtet sich an alle, die sich mit den Themen Genuss, Abhängigkeit und persönlicher Entwicklung auseinandersetzen möchten. Besonders relevant ist es für Menschen, die in sich selbst oder ihrem Umfeld problematische Konsummuster erkennen und nach neuen Perspektiven suchen.

Ist das Buch schwer zu lesen? Nein. Mia Gatow schreibt mit einer Mischung aus poetischer Tiefe und schonungsloser Direktheit. Der Text ist sowohl bewegend als auch unterhaltsam und macht es leicht, auch schwierige Themen zu erfassen.

Welche Botschaft steckt hinter dem Buch? Das Leben in Klarheit ist möglich und bereichernd. Nüchternheit ist kein Verlust, sondern ein Gewinn – an Freiheit, Authentizität und Lebendigkeit.

Abschnitt aus dem Buch

Alkoholismus ist eine Familienkrankheit. Hat man Verwandte ersten Grades, die alkoholabhängig sind, vervierfacht sich das Risiko, selbst eine Abhängigkeit zu entwickeln. Deswegen wird schon lange unermüdlich nach dem »Alkohol-Gen« gesucht. Gefunden hat man viele unterschiedliche. Bislang gibt es Erkenntnisse über neunundzwanzig unterschiedliche Gene, die mit einem problematischen Alkoholkonsum verknüpft zu sein scheinen. Einige Faktoren, die mit der Wirkweise von Alkohol in Zusammenhang stehen, könnten also genetisch sein. Manche Gene verstärken die stressmindernde oder die euphorisierende Wirkung des Alkohols, manche bewirken, dass mehr Dopamin ausgeschüttet wird – der Stoff, der uns dazu motiviert, Verhaltensweisen zu wiederholen, und damit die Grundlage jeder Sucht ist.

Der wichtigste genetische Faktor scheint jedoch die Toleranz zu sein: Man kann Trinkfestigkeit erben. Aber das eine Alkohol-Gen, das man zu finden hofft, gibt es nicht.

Stattdessen sind sich die meisten Forschenden einig darüber, dass das soziale Umfeld den bei Weitem stärksten Einfluss auf unser späteres Trinkverhalten hat. Wir lernen, wie andere Säugetiere auch, durch Nachahmen. Je mehr trinkende Rollenmodelle wir sehen, desto besser können wir lernen, zu welchen Gelegenheiten getrunken wird und was das Trinken bedeutet. Können wir beobachten, dass Alkohol von unseren Bezugspersonen zur Stimmungsregulierung benutzt wird, machen wir das vermutlich später auch. Je jünger wir sind, wenn wir das erste Mal trinken, desto höher die Wahrscheinlichkeit
einer späteren Abhängigkeit. Je leichter der Alkohol zu haben ist, desto eher greifen wir danach.

In Deutschland dürfen Kinder ab vierzehn in Anwesenheit einer Aufsichtsperson trinken – eine in Europa einzigartige Regelung. Die CDU/CSU-Fraktion hält am sogenannten »betreuten Trinken« fest,
da es sich bewährt habe, dass Kinder »im geschützten Umfeld ihrer Eltern über Alkohol aufgeklärt« würden. Wie auch immer diese Aufklärung aussehen mag, statistisch ist klar: Kinder von trinkenden Erwachsenen trinken später mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst.

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